Begrifferklärung

Noodynamik

Geistige (noetische) Dynamik, entsteht aus der polaren Spannung zwischen Sinn und Mensch, konstituiert als Spannung zwischen Sein und Sollen alles Menschsein.
Die Noodynamik liegt im Moment der Freiheit des Menschen zur Stellungsnahme gegenüber Bedingungen und Wertmöglichkeiten.
Wörterbuch der Logotherapie & Existenzanalyse. Biller/ Lourdes Stiegeler. Böhlau Verlag 2008 Wien



18 Juni 2012

Logon-Grain V


Romeo oder Julia: "War es die Lerche oder der Nachtigall?"
oder: "Wer ist wirklich verantwortlich?" 
Ein Plädoyer zum Hinhören auf die leisen Tönen
Juliet "Wilt thou be gone? It is not near day:
It is the nightingale, and not the lark".
Romeo "It was the lark, the herald of the morn.
No nightingale. Look, love, what envious streaks".
from 'Romeo and Juliet' by William Shakespeare
Die bemerkenswerte Liebesgeschichte zweier Menschen, Julia und Romeo, von William Shakespeare Meisterhaft in Szene gesetzt, ist weltberühmt und vieles ist bereits gesagt und geschrieben worden seit seiner Veröffentlichung. Deshalb wollen wir uns diese dramatische Liebesgeschichte aus einer Perspektive nähern, die vielleicht eine Relevanz zu uns heutige Menschen erkennen lässt.

Nicht nur, dass Romeo am Abend zum Balkon zu seinem Julia hoch klettert, lässt ihm als jugendlicher Held herausstechen. Auch als Raufbold mit dem Gegen und  als unverfrorener Lausbub macht er sich einen Namen und so selbstverständlich, elegant und siegessicher wie Romeo den Degen schwingt, als wäre er William Shakespeare mit seinem Schreibfeder, so eloquent und voller Poesie sind seiner Worte wenn es darum geht, seine Julia zu betören und zu umgarnen. Dazu die schöne Julia, aus gutem Hause stammend, unterrichtet von Privatlehrern und behütet aufgewachsen, stellt die Liebe und die Poesie als höchstes Ziel für ihr Leben und spricht von ihr und von ihrem Traummann nur in Versen der Poesie oder in der Sprache der Musik (welches ja eigentlich sublimierter, metaphysischer Dichtung ist).

Da muss es einem doch verwundern, dass beide, - dazu ausserdem zur gleichen Zeit! - einen scheinbar kollektiven Blackout erliegen und es nicht schaffen, fest zu stellen, welche Tages- oder Nachtzeit es ist, und was das für ein Vogel ist, der ihnen da mit seinem Gesang die Show stiehlt .
Es scheint sogar fast so, als das die intensive Liebesnacht, oder zumindest die Dauer des Liebesfestes daran Schuld ist, dass zwei offenbar gesunde, intelligente Menschen dem Singvogel, ob jetzt Nachtigall oder die Lerche, zum Sündenbock machen, obwohl dieser wohl am wenigsten dafür kann, dass sie an Gedächtnis- oder zumindest an Wahrnehmungsverlust zu leiden scheinen.
An diesem Beispiel lässt sich schön erläutern, wie sich Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit durch äusseren Einflüssen beeinflussen und ändern lassen.
Man muss kein Ornithologe sein um zu erkennen, dass eine Nachtigall sich anders anhört als eine Lerche. Man muss auch kein Sexualtherapeut sein um zu wissen, dass Paare nach einer lange und ausgedehnte Liebesnacht, ihre Sinneswirkungen und deren Bedeutung nicht mehr so richtig einschätzen können.
Das alles lässt sich mit unseren 'gesunden Menschenverstand' logisch erklären.
Allerdings will es mir so vorkommen das wir eben das, was wir sehen, hören und fühlen unter 'normalen Umständen' trotzdem nicht so einschätzen, bzw. einordnen können und zwar so, als wären wir in 'veränderten Umständen'.
Woran liegt es das wir eine Nachtigall nicht von eine Lerche unterscheiden können?
- Liegt es an unser Gehör, das wir nicht (mehr) hinhören wollen?
- Fehlt es an Bewusstsein oder die Bildung, das wir nicht wahrnehmen und erkennen, dass es unterschiedliche Vögel gibt, die eben darum unterschiedlich singen?
- Ist es das fehlende Interesse an unsere Umgebung, die fehlende Sensibilität, das, was in unsere unmittelbare Umgebung passiert, zu erkennen?
- Ist es vielleicht unseren Blickwinkel, das wir immer mehr Nabelschau halten, weil ja "die Welt" da draussen so grausam ist oder wir meinen, das wir darauf keinen Einfluss (mehr) haben und es uns deshalb auch nicht mehr zu interessieren hat was "draussen" passiert?

Mir fällt dazu das "Gleichnis vom Säemann" (Matthäus 14, 3-9) ein:
"Siehe, es ging ein Säemann aus, zu säen.
1) Und es begab sich, indem er saete, fiel etliches an den Weg;
da kamen die Vögel unter dem Himmel und fraßen's auf.
Etliches fiel in das Steinige, wo es nicht viel Erde hatte;
und ging bald auf, darum daß es nicht tiefe Erde hatte.
Da nun die Sonne aufging, verwelkte es, und dieweil es nicht Wurzel hatte, verdorrte es.
2) Und etliches fiel unter die Dornen;
und die Dornen wuchsen empor und erstickten's, und es brachte keine Frucht. 
3) Und etliches fiel auf ein gutes Land und brachte Frucht, die da zunahm und wuchs; etliches trug dreißigfältig und etliches sechzigfältig und etliches hundertfältig.
Wer Ohren hat, zu hören, der höre!"
Das "Gleichnis vom Säemann" wird weiter (Matthäus 14, 14-20) folgendermaßen erklärt:
"Der Säemann sät das Wort. Diese sind's aber, die an dem Wege sind:
1) welchen aufs Steinige gesät ist: wenn sie das Wort gehört haben, nehmen sie es alsbald mit Freuden auf, und haben keine Wurzel in sich, sondern sind wetterwendisch; wenn sich Trübsal oder Verfolgung um des Wortes willen erhebt, so ärgern sie sich alsbald;
2) welchen unter die Dornen gesät ist: die das Wort hören, und die Sorgen dieser Welt und der betrügerische Reichtum und viele andere Lüste gehen hinein und ersticken das Wort, und es bleibt ohne Frucht;
3) welchen auf ein gutes Land gesät ist: die das Wort hören und nehmen's an und bringen Frucht, etliche dreißigfältig und etliche sechzigfältig und etliche hundertfältig."

Es gibt also offenbar drei Handlungsweisen die eine entsprechende Existenzphilosophie offenbaren. Die drei Handlungsweisen sind:
1) so zu tun, als ob alles 'beim Alten ist';
2) man akzeptiert das 'Neue' als gegeben an und lebt weiter ohne das es einem weiter berührt, oder;
3) man macht sich wegen der veränderten Umständen Gedanken über sein bisheriges Denken, Handeln und Leben und nimmt gegebenenfalls eine der Situation entsprechende Korrektur vor.

Aus psychoanalytischer Sicht (Freud) scheint alles auf der Umgang auf der Frage: "Es oder Ich" hinauszulaufen: 1) "Es hat sich nichts geändert"; 2) "Es hat sich was geändert, aber es hat keinen Einfluss"; 3) "Es hat sich was geändert, also muss etwas getan werden."

Aus tiefenpsychologischer Sicht (Individualpsychologie, Jung/Adler) erkennen wir die dahinter legenden Motivation: 1) Leugnung, Ignoranz: "Was soll sich denn für mich geändert haben?"; 2) Gleichgültigkeit: "Na und? Ich schaffe es selber nicht, etwas zu ändern"; 3) Verantwortungsbewusstes Handeln: "Was kann ich tun?"

Viktor E. Frankl, der Begründer der 'Logotherapie & Existenzanalyse' und damit der 'Höhenpsychologie', bringt es jedoch anders auf den Punkt wenn er sagt: "Es gibt nur zwei Arten von Menschen: die Anständigen und die Unanständigen." Es hängt davon ab, wer ich entscheide sein zu wollen und wie ich entscheide sein zu wollen.

Die Frage, ob es nun der Nachtigall oder die Lerche war der unterm offenen Fenster gesungen hat, wird letzten endlich dadurch beantwortet, ob ich mir meiner eigenen Existenz und dessen Bedeutung bewusst bin und daraus entsprechend eigen-verantwortlich handle, oder eben nicht.
Der Wert und Bedeutung meiner eigener und anderer Existenz (das Sein, Da-Sein, So-Sein) hängt ja wesentlich davon ab, wie ich mich selbst begegne und wie ich auf Existenz ausserhalb meiner eigenen Umgebung und meiner eigenen Wirklichkeit (oder Selbst-Bewusst-Sein) antworte.
Anhand dieser jeweiligen Antwort wird ersichtlich ob und wie ich mir bewusst bin, was Existenz bedeutet und wie ich kommuniziere, interagiere, interveniere mit mir selbst und anderen. Je bewusster (sprich: sensibler, einfühlsamer, behutsamer, differenzierter) ich auf meiner eigenen Bedürfnissen und meiner Umgebung eingehe, je klarer erkenne ich die feinen Unterschiede, die wiederum eine einwandfreie Identifizierung ermöglichen.

Am Beispiel Shakespeare's, wer denn gesungen hat, der Nachtigall und die Lerche, lässt sich versinnbildlichen was Kommunikation bedeutet: das Wahrnehmen von und das Antworten auf Signale, Impulse und Zeichen, die angeben dass etwas neues im Gange ist, worauf ich zu antworten habe. Verstehe ich das was ich wahrgenommen habe, so wende ich mein Wertepaket auf das Verstandene an und komme so zu einem persönlichen Haltung gegenüber dem Gesagten. Je nachdem, wie mein Wertepaket aussieht und welche Prioritäten ich welchen Wert beimesse, verhalte ich mich auch Situationen und involvierte Menschen gegenüber. Aus den gelebten, bzw. verwirklichten Werten kann man die persönliche Existenzphilosophie ablesen.

Auf Grund oben angeführte Argumenten, kann folgendes mit Sicherheit gesagt werden: - nicht jeder Vogel der singt, ist ein Nachtigal oder eine Lerche;
- nicht jeder, der ein Vogel singen hört, weiß, ob es sich um einen Nachtigall oder eine Lerche handelt;
- nicht jedes Paar, der Vögel singen hört, ist ein Liebespaar und hat grade eine  ausgedehnte Liebesnacht hinter sich;
- nicht jedes Liebespaar schläft bei offenem Fenster, sodass sie Vögel singen hören.
- nicht jedes Liebespaar weiß, aus welchen Grund sie jetzt die Vögel singen hören (gerade wenn die Fenster zu sind!);
- Eine Liebesnacht wird nicht dadurch gekennzeichnet, dass vorher und/oder nachher irgendwelche Vögel ein Ständchen bringen;
- Nachtigallen und Lerchen sind keine Zeitansager, jedoch singen sie zu jeweils andere Tageszeiten: Tagesanbruch (Lerche), Tagesende (Nachtigall).
- Jeder Mensch ist in der Lage, selbst unter den widrigsten Umständen, den individuellen Sinn und Bedeutung einer Situation oder Erfahrung zu erfassen.

Eine Anregung zur Sensibilisierung zum Hinhören: Nachtigallen und Lerchen singen in einer Sprache die Menschen nicht verstehen (inhaltlich), die uns jedoch aufgrund ihre schöner Weisen auf etwas hinzuweisen vermag: auf das Schöne, das Reine, das Wahre auf dieser Planeten. Wenn 'das Wort' (eines Nachtigall, Lerche oder Menschen) auf 'guter Erde fällt' (= ein reines und offenes Herz), 'so bringt es reiche Frucht'. 
Wenn wir also sensibler und bewusster mit uns selbst, mit unseren Gefühle, Gedanken und Werten umgehen lernen, werden wir die Zeichen der Zeit erkennen und zuerst intuitiv, dann "von Angesicht zu Angesicht" wissen 'Ob', 'Was', 'Wann' und 'Wie' was getan werden muss, oder eben nicht, dann werden wir wahre Schätze entdecken. Das nennt man ein reiches, erfülltes und sinnvolles Leben!
PS

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